Aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen, ist ein hohes Gut. Und es müssen nicht immer die hochdramtischen völker- und weltumspannenden Katastrophen sein, aus den sich lernen läßt…
Vor langer langer Zeit – man muss sich das vorstellen! – gab es eine Zeit, in der es Computer gab und noch keine standardisierten Betriebssysteme, die eine Interaktion zwischen dem Computer und Programmen und dann mittelbar mit den sie bedienenden Menschen ermöglichten. Natürlich gab es jede Menge Menschen, die sich daran setzten, die elementaren Befehle (system calls), die ein Computer versteht, händelbar zu machen. Erst dann können letztlich andere Programme wie z.B. eine graphische Darstellung auf dem Bildschirm oder ein Texteditor oder eine Tabellenkalkulation darauf aufgesetzt werden. Und natürlich gab es ganz unterschiedliche Herangehensweisen an die Entwicklung von Betriebssystemen, die sich letztendlich mit ein wenig Pfaffenpsychologie aus der Biographie der Akteure erklären lässt.
Sagen wir also stark vereinfacht, der Eine wächst mit einem (Stief-) Vater auf, der ständig alte Autos aufkauft, sie repariert, aufpeppt und schließlich mit Gewinn verkauft. Nach der Philosophie des Vaters muss sogar die Rückwand eines Schrankes hochqualitativ sein, weil sonst der gesamte Schrank an Qualität einbüßt. Der Sohn dieses Mannes baut Computer, in denen der zentrale Chip (also die Hardware) und das Betriebssystem (die grundlegende Schicht der Software) nahezu unauflösbar miteinander verbunden sind. Das Gehäuse wird sogar im Inneren bis ins letzte durchgestylt und dann so verschraubt, dass ein Laie es nicht öffnen oder gar mit ergänzenden Modulen erweitern kann. Eine echte Blackbox: Ich drücke auf eine Taste und auf dem Bildschirm erscheint ein Buchstabe – was dazwischen geschieht, soll den Endanwender nicht interessieren (tut es vermutlich mindestens 90 % aller Nutzer auch nicht). Der Nutzer kauft das gesamte Paket oder gar nichts und freut sich über den angebissenen Apfel als Firmenlogo der irgendwie irgendwann zwischen Computerarbeit, LSD, Obstplantage, Zen und Marketingideen kreiert wurde.
Sagen wir mindestens ebenso stark vereinfacht, der Andere, der immer schon irgendwie ein Freak war, sass als kleiner Junge auf dem Schoß des Großvaters, der sich mit den allerersten Desktop-„Computern“ beschäftigte. Aus purer Neugier setzt er sich später mit dem zentralen Prozessor seines Computers auseinander. Weil die damals gängigen Betriebssysteme teuer waren, deren Auslieferung lange dauerte und sie noch dazu fehlerhaft waren, entschloss er sich, ein eigenes Betriebssystem zu schreiben. Also tüftelt er, versucht die elemtaren Befehle des Prozessors herauszufinden und lernt schliesslich, diese zu steuern. Irgendwann ist das Gerippe eines Betriebssystems fertig und er folgt den Gepflogenheiten der damaligen wissenschaftlichen Welt: „Wenn ich durch die Vorarbeiten Anderer etwas neues entwickeln konnte, stelle ich das auch Anderen frei zur Verfügung.“ Also schickt er in eines der damals schon existierenden „Internet-“ Foren die Anfrage, was solch ein Betriebssystem noch alles können könnte. Daraufhin kommen Anfragen und Anforderungen, aber schließlich bis heute auch jede Menge Mitarbeiter weltweit, die an dem offen gelegten Betriebssystem-Code weiterarbeiten und das System erweitern, anpassen und aktualisieren. Die wachsende Community folgt dem „gnädigen Diktator“, der Erfahrungen mit bissigen Pinguinen macht, sich aus allen Streitereien der Entwickler heraushält und abwartet, was funktioniert – besser: was wirklich gut funktioniert, damit es ins Betriebssystem eingebaut wird!
Natürlich gibt es noch Andere, z.B. solche, die hier und da schauen, was sie gut finden und brauchen können. Dann packen sie das zusammen und verkaufen es als etwas Eigenes, das auf gar keinen Fall verändert werden darf. Aber das ist eine andere Geschichte auf dem Feld der Betriebssysteme und Software, wie auch der Unterrichtsmaterialien…
Seit den Vorkommnissen um Betriebssysteme ist geraume Zeit vergangen. Die nicht mehr ganz neuen Medien erlauben uns heute Mediensprünge, Verfielfältigungen, Copy&Paste etc. in einem Tempo und in einem Ausmass das damals nur wenige ahnten. Dennoch läßt sich die gegenwärtige Diskussion um OER in den Erfahrungen aus dem eben beschriebenen Feld aufspannen.
Greife ich z.B. in der Unterrichtsgestaltung auf verlegerisch produzierte Materialien zu, bekomme ich die Blackbox des Apfels: Veränderungen sind nicht erlaubt – hinein- und dahinterschauen ist nur insofern möglich, als ich mitunter mit didaktischen Hinweisen versorgt werde. Diese Materialien werden mit großem Aufwand, (manchmal) unnachahmlicher Akribie, gelegentlicher Genialität und in tollem Gewand produziert. Doch dieser Aufwand hat seinen Preis in doppelter Hinsicht, weil ich einerseits den hohen Einkaufspreis zu zahlen habe (wie in der Apfel-Welt) und andererseits begreife, dass ich zu blöd (oder faul, oder ideenlos, oder…) bin, um eigenes Material auf so hohem Niveau zu produzieren (obwohl die Ausbildung zur/m LehrerIn doch nicht ganz trivial ist). Die Zwickmühle wird aber spätestens an diesem Vergleich deutlich: Ist der Prozessor im Computer das Bedingungsfeld, kann das Betriebssystem (der U-Entwurf) sehr genau darauf abgestimmt werden. Was aber, wenn schon das Bedingungsfeld nicht einheitlich ist – weil die SchülerInnen eben doch nicht alle gleich ticken? Diese Beobachtung ist trivial für jedeN LehrerIn – sie führt aber in die Konsequenz, U-Materialien abzuändern, zu variieren, zu erweitern etc.. In der Apfel-Welt führt das Öffnen des Gehäuses zum Verlust der Garantie- und Gewährleistungsansprüche; in der „Nicht-OER-orientierten“ Welt der Unterrichtsmaterialien werden LehrerInnen durch Urheberrechte vielleicht kriminalisiert aber auf jeden Fall separiert, denn wer gibt schon gerne seine Hehlerware weiter?
Richard Stallman, der Erfinder des Betriebssystems GNU und der GPL (General Public License) führt diesen Gedanken in das moralische Feld (wenn auch in der Formulierung und der Zielrichtung allein auf Software):
„The deepest reason for using free software in schools is for moral education. We expect schools to teach students basic facts and useful skills, but that is not their whole job. The most fundamental job of schools is to teach good citizenship, which includes the habit of helping others. In the area of computing, this means teaching people to share software. Schools, starting from nursery school, should tell their pupils, “If you bring software to school, you must share it with the other students. And you must show the source code to the class, in case someone wants to learn.”
(R. Stallman, Why Schools Should Exclusively Use Free Software. Copyright c 2003, 2009 Richard Stallman. This essay was originally published on http://gnu.org, in 2003. This version is part of Free Software, Free Society: Selected Essays of Richard M. Stallman, 2nd ed. (Boston: GNU Press, 2010).)
Stallman, Torvalds und Jobs kommen aus der universitären Welt und haben unterschiedliche Schlüsse aus ihren Entdeckungen und Ideen geschlossen. Und Torvalds formuliert seinen Schluss so:
„Als ich Linux erstmals ins Internet stellte, hatt ich das Gefühl, in die jahrhundertealten Fußstapfen der Wissenschaftler und Forscher zu treten, die ihre Arbeit auf den Grudfesten anderer aufsetzen – auf den Schultern von Giganten, um mit Isaac Newton zu sprechen. Ich machte meine Arbeit nicht nur zugänglich, damit andere einen Nutzen daraus ziehen konnten, ich wollte auch etwas für mich: Feedback (okay, und Anerkennung). Ich sah keinen Sinn darin, Leuten Geld abzuknöpfen, die mir möglicherweise helfen konnten, meine Arbeit zu verbessern.“
(L. Thorvalds, D. Diamond, Just for fun. München/Wien 2001, S. 103)
Würde diese Erkenntnis aus der Software-Welt zurück geholt in die Schulhäuser, könnte manches Gute daraus werden – bei und für LehrerInnen und SchülerInnen. Zugleich liefert Thorvalds auch eine Menge guter Gründe, warum sich Menschen an der Erstellung von Software – hier besser: Unterrichtsmaterialien – beteiligen.
Und um auf den einleitenden Satz zurück zu kommen: Ganz so undramatisch finde ich es wirklich nicht, wenn ein Betriebssystem immer noch den deutschen Markt monopolisiert: „Der Gesamtanteil aller Windows-Versionen belief sich der Statistik zufolge im März 2013 auf 91,89 Prozent (plus 0,2 Punkte). Mac OS X gab im vergangenen Monat 0,2 Punkte ab und war für 6,94 Prozent des Internettraffics verantwortlich. Linux landete mit 1,17 Prozent abgeschlagen auf dem dritten Platz.“ (Quelle: www.zdnet.de)
OER Oder: Warum Pinguine keine Äpfel mögen und warum Äpfel keine Pinguine fressen können von Frank Wessel ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.