Eine Einführung im Rahmen des Fachgesprächs der Evangelischen Akademie im Rheinland: Open Educational Resources. OER – Ein Thema für Kirche im digitalen Zeitalter am 17.03.2015 im Haus der Begegnung, Bonn / Bad Godesberg.
Der Kirchenvater Augustinus konnte von „Open Educational Ressources“ nichts wissen; aber im Jahr 397 formulierte er eine entscheidende Grundlage christlicher Lehre, wenn nicht der Wissenschafts-, Bildungs- und Kommunikationstheorie insgesamt: „Omnis enim res, quae dando non deficit, dum habetur et non datur, nondum habetur, quomodo habenda est.“2(„Denn jede Sache, die durch Mitteilung an andere nicht verliert, besitzt man nicht, wie man soll, solange man sie nur selber besitzt, ohne sie wieder an andere weiterzugeben.“) Dies schreibt Augustinus in „De doctrina christiana“ – Also: „Über die christliche Bildung“. Das Gerundium „dando“ meint den Vorgang des „Weitergebens“ oder die „Weitergabe“. Es geht also um etwas anderes als die bloße „Mitteilung“; das unterstreicht auch der unmittelbare Kontext des Zitats, wenn Augustinus auf die Brotvermehrungswunder in Mt 14 und 15 verweist. Somit verweist er auf eine der zentralen biblischen Quellen des Teilens und will mit seiner Schrift zugleich einen methodisch angemessenen Umgang mit der Bibel als der einen für jeden lesefähigen Menschen weltweit offenen Quelle (des Glaubens und des Wissens) vermitteln.3
Prof. David Wiley4, einer der Vorreiter für „Openness“ in der Bildung in Amerika, formuliert das 2010 etwas anders: „Open“ im Sinne unseres „frei“ und „offen“ ist eine Frage des Teilens, des Gebens und der Großzügigkeit. Und er spitzt das noch weiter zu: Education – also Erziehen und Bilden – ist aus sich selbst heraus bereits offen – Erziehen und Bilden ist Teilen, Geben und Nehmen.5 Wiley denkt dabei an Educational Ressources in einem ganz weiten Sinn: Vom Arbeitsblatt über komplette Unterrichtsreihen bis zu Offenen Internet-Kurse mit offenen Programmstandards usw.
Diese beiden Bemerkungen spannen den weiten Bogen auf, um den es geht: Lehren und Lernen hat immer auch eine produzierenden Anteil – das fing vielleicht schon in der Höhle von Lascaux6 und an anderen Stellen an – es entstehen „Educational Ressources“ – schlicht wie ich bin, übersetze ich: „Unterrichtsmaterialien“. Es ist hier nicht meine Aufgabe, der Geschichte des Urheberrechts nachzugehen und daran anschließend dem gesamten Konstrukt von sich ergebenden Nutzungs, Verwertungs-, Weitergabe- und welchen Rechten sonst auch immer. Tatsache ist, dass „Lehrende“ unmittelbar ein Urheberecht erwerben, wenn und sobald sie eine eigene selbständige Leistung bei der Erstellung eines Unterrichtsmaterials erbracht haben. Dagegen können sie sich gar nicht wehren, aber sie können über die Nutzungsrechte verfügen – damit sind wir unmittelbar bei der Frage nach Lizenzen und Rechten, die eine Nutzung, Veränderung und Weitergabe regeln könnten.
Solche Regelungen sind knapp 2 Jahrtausende nach Augustin und ca. 500 Jahre nach Erfindung des Buchdrucks wichtiger denn je. Denn mit den Möglichkeiten der Digitalisierung, und z.B. einer unglaublich raschen Datenübermittlung von jedem Punkt der Welt zu jedem anderen, und mit immensen Speicherkapazitäten wachsen die Möglichkeiten, das Wissen – oder sage ich besser die „Lehr-Lern-Ressourcen“ – zu teilen und zu vervielfältigen.
Gleichzeitig wächst aber weltweit die Erkenntnis, dass Bildung überhaupt nicht stattfindet, weil keine Bildungsmaterialien erhältlich sind, oder weil sie für den größeren Teil der Bevölkerung mancher Länder schlicht nicht bezahlbar sind. Bildung ist aber doch ein offener Prozess und die Materialien dazu sollten frei und offen zur Verfügung stehen. Solche Überlegungen waren der Ausgangspunkt dafür, dass sich die UNESCO 2002 sich mit dem Thema befasste und diskutierte, wie vor allem in Entwicklungsländern der Zugang zu Bildung verbessert werden könne: „the open provision of educational resources, enabled by information and communication technologies, for consultation, use and adaptation by a community of users for non-commercial purposes“7. Hier erscheint der Begriff: Die freie und offen Versorgung mit Bildungsmaterialien – „Open Educational Resources“. Ein umfangreicher Maßnahmenkatalog der UNESCO folgte.8
Kurz zuvor, in 2001, hatte das MIT Vorlesungsmitschnitte offen zur Verfügung gestellt und eröffnete damit die Initiative OpenCourseWare. Andere Produzenten und Anbieter folgten und bedienten damit einen globalen und sich ändernden „Lern-Lehr-Markt“. Im Rahmen von nun zunehmend non-formalen Bildungsprozessen sucht sich der Lernende seinen Mentor bzw. die Materialien, die seinen Bedürfnissen nahe kommen, selbst aus. Andererseits erlauben es die nicht mehr neuen Medien immer leichter, die eigenen Lernerfolge und damit – Lernressourcen – auch anderen zur Verfügung zu stellen: Der Maler von Lascaux brauchte noch eine Höhle, eine Wand, eine Fackel und Zeit – ich benötige heute nur noch z.B. ein Smartphone und den Zugang zu meinem Internet-Blog.
Ein weiterer Meilenstein war die Cape-Town-Declaration 2007. Dort heißt es: „Lehrer und Professoren in der ganzen Welt haben bereits eine überwältigende Menge von frei zugänglichen Bildungsmaterialien im Internet veröffentlicht, als so genannte Open Educational Resources (OER). Sie verfolgen das Ziel, Bildung und Wissen unbeschränkt verfügbar zu machen. Diese Entwicklung geht einher mit der Einführung neuer pädagogischer Ansätze, bei denen sich Lehrende und Lernende in einem gleichberechtigten Prozess gemeinsam Wissen erschließen. […] Die Idee von „Open Education“ führt noch weiter. Sie […] unterstützt kollaboratives Lernen, und bietet darüber hinaus neue Möglichkeiten erlangtes Wissen zu prüfen, zu testen, und nachzuweisen. […] „Open Education“ wird die bestehende Bildungslandschaft absehbar grundlegend verändern.“9
Man kann in diesen Worten noch immer die hoffnungsvolle Erwartung hören und spüren. Hier bei uns war es etwas anders: 2011 stellte die OECD eine Umfrage unter ihren Mitgliedsstaaten zu OER an. Darin ist Deutschland als einziges Land nicht der Meinung, dass OER in naher Zukunft eine hohe politische Priorität zukomme. Ausserdem sei das Fehlen von Lehr- Lernmaterial (besonders in englischer Sprache) nicht eines der grösseren Probleme im Bildungsbereich.10
Zugleich ging in den bundesdeutschen Schulen, die schon einen eigenen Schulserver betrieben, die Angst vor dem „Schultrojaner“ um. Seit 2010 hatten die Schulbuchverlage mit den Kultusbehörden darüber verhandelt, wie unrechtmäßige Digitalisate auf den Schulservern aufgespürt werden könnten. Stichprobenartig sollten Länder und Gemeinden mit dem Computerprogramm in den Netzwerken ihrer Schulen nach digitalen Kopien urheberrechtlich geschützter Texte suchen Diese Pläne wurden glücklicherweise im Dez. 2012 gekippt. Aber sie beunruhigten nicht nur die Lehrerinnen und Lehrer, weil erneut deutlich gemacht wurde, wie streng die Nutzungsrechte von verlaglich produzierten und vertriebenen Materialien sind.
Ebenfalls 2012 gab es dann die Pariser OER Declaration der UNESCO. Die Deutsche Unesco-Kommission formuliert das Verständnis von OER einige Monate später so: OER sind Lehr-, Lern- und Forschungsressourcen in Form jeden Mediums, digital oder anderweitig, die gemeinfrei sind oder unter einer offenen Lizenz veröffentlicht wurden, welche den kostenlosen Zugang sowie die kostenlose Nutzung, Bearbeitung und Weiterverbreitung durch andere ohne oder mit geringfügigen Einschränkungen erlaubt.11
Diese kurz skizzierten Hintergründe kristallisierten sich in der Evangelischen Kirche im Rheinland zu der Absicht, eine eigene Positionsbestimmung zu OER zu finden:
Im Juni 2013 gab es ein erstes informelles Treffen mit Vertretern aus Abt V und Abt. VI.12
Im Sep. 2013 beschloß das Kollegium im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche im Rheinland die Erstellung eines Positionspapieres zu Open Educational Resources (OER). Es wurde vereinbart, dass Dezernat V.3 (Politik) einen Konsultationsprozess in der Web-Community initiiert. Dazu wurde unter www.openeducationalresources.de u.a. ein Dokument veröffentlicht, an dem jede und jeder mitschreiben konnte.
Das so erarbeitete Positionspapier wird dem Ausschuss für Erziehung und Bildung (federführend) und dem Sozialethischen Ausschuss zur weiteren Beratung vorgelegt.
Ebenfalls im Sep. 2013 stellte ich während des „OER Köln – Camp für freie Bildungsmaterialien“ am Joseph-DuMont-Berufskolleg in Köln das Vorhaben der EkiR vor13 und erhielt wichtige Hinweise u.a. von Herrn Neumann.
Im Okt. 2013 nahm der Leiter der Abt. „Bildung und Erziehung“, Klaus Eberl, der auch Mitglied der Kirchenleitung ist, zu diesem Projekt Stellung: „Ermutigt und angeregt von der OER-Deklaration der UNESCO (Paris 2012) und in Wahrnehmung ihrer Bildungsverantwortung will auch die Evangelische Kirche im Rheinland eine Position zu Open Educational Resources erarbeiten und sich in die bildungs- und medienethische Diskussion einbringen.“14
Im Sep. 2013 wurde das Vorhaben im Sozialethischen Ausschuss der EkiR vorgestellt. Hier wurde gebeten, über weitere Zwischenstände informiert zu bleiben. Im April 2014 befasste sich der Ausschuss für Bildung und Erziehung mit dem Thema. Und von dort waren es viele kleine Schritte und Gespräche bis heute. In der Zwischenzeit wurde auf der Internetseite weiter an dem Positionspapier gearbeitet. Wir haben nicht nachgehalten, wie viele Editoren sich an diesem offenen Prozess beteiligt haben. Aber es gab zahlreiche Anregungen und Anreicherungen. Das wird heute sicherlich auch so weitergehen. Beabsichtigt ist nun, die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland im Frühjahr 2016 mit diesem Thema zu befassen.
Bei Augustin habe ich begonnen – bei Prof. Bernd Schröder aus Göttingen ende ich. In seiner 2012 erschienenen Religionspädagogik geht er auf die „mediale Kommunikation und Medienproduktionen der Kirche“ ein und formuliert: „Deren religionspädagogische Relevanz besteht erstens darin, dass diese Produktionen nicht selten als Unterrichtsmedien zum Einsatz kommen, zweitens darin, dass sie bei ihren Nutzern jenseits institutionalisierter Lernorte informell Lernprozesse initiieren und insofern die Lernorte „Fernsehsessel“ und „Computer-Arbeitsplatz“ konstituieren, drittens darin, dass sie durch ihre Reichweite „Öffentlichkeit“ schaffen für religiöse, teilweise sogar religionspädagogische Kommunikation. Sie kreieren damit auf ihre Weise eine öffentliche Religionspädagogik.“15 Allerdings – so muss man sagen – Bernd Schröder spricht von medialer Kommunikation und Medienproduktionen der Kirche – ob er 2012 schon OER im Blick hatte, dazu konnte ich ihn noch nicht befragen….
2Aurelius Augustinus, „De doctrina christiana“, Buch 1, Kapitel 1: „Corpus Christianorum“, 397 n.Chr.. Dies ist das Motto der Free Software Foundation.
3Herzlichen Dank an Peter Mörbel, Bonn, für die weitergehenden Hinweise zu Augustinus Zitat und „De doctrina christiana.
4Associate Professor of Instructional Psychology and Technology at Brigham Young University. Chief Openness Officer of Flat World Knowledge and Founder and board member of the Open High School of Utah. Formerly Associate Professor of Instructional Technology and Director of the Center for Open and Sustainable Learning at Utah State University [Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/David_A._Wiley])
6Der Fingerzeig als ursprünglichste pädagogische Geste ist sicherlich open. Zeigte aber der Künstler in der Höhle von Lascaux auf seine Malereien, um den Zuhörern seine Erlebnisse während der Jagd zu erklären, könnte er nach heutigem Recht das Urheberrecht an der Malerei beanspruchen. Insofern die Höhle ein öffentlicher Raum war, und auch nachfolgende Generationen an dieser Zeichnung die Jagd lernten, sind die Malereien in gewissem Sinne open – nicht nur, weil der Künstler schon mehr als 70 Jahre verstorben ist.
7http://www.e-teaching.org/didaktik/recherche/oer
8Pädagogische, soziologische und technische Vorüberlegung spielten sicherlich eine weitere Rolle: Marshall McLuhan sprach schon in seiner Medientheorie in den 1960ern schon vom globalen Dorf. Und Bill Gates erweiterte das zum „Planetarischen Netzwerk“.
9http://www.capetowndeclaration.org/translations/german-translation
10Vgl.: Hylén, J.et al.(2012), “Open Educational Resources: Analysis of Responses to the OECD Country Questionnaire”, OECD Education Working Papers, No. 76, OECD Publishing. http://dx.doi.org/10.1787/5k990rjhvtlv-en (eigene Übersetzung)
11Deutsche UNESCO-Kommission e.V.: Was sind Open Educational Resources? Bonn 2013. Auch das Bündnis Freie Bildung machte sich diese Definition im Feb. 2015 zu eigen: http://buendnis-freie-bildung.de/positionspapier-oer/
12Auf Einladung von Frau Schlösser-Kost, LKA
13http://openeducationalresources.blogs.rpi-virtuell.net/2013/09/25/evangelisches-positionspapier-oerkoeln13/
14http://openeducationalresources.blogs.rpi-virtuell.net/2013/10/15/okr-klaus-eberl-oer-verantwortung-wahrnehmen-lerninhalte-teilen/
15B. Schröder, Religiös relevante Medien – operationalisierbare Aspekte. In: Ders., Religionspädagogik. Tübingen 2012. S. 682 – 690, S. 687.
OER in der EKiR von Frank Wessel ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Danke für die gelungene Veranstaltung heute und die anregende Einführung ins Thema.