Bei der Suche, welche größeren Entdeckungen und Erfindungen zur Zeit Martin Luthers getätigt wurden fand ich, dass Vieles damit zu tun hat, dass die Menschen nicht mehr auf Sagen und Legenden hörten, sondern genau hinschauten, um selber zu sehen. In diesem Zusammenhang stolperte ich über einen Satz, den Martin seiner Frau zugeraunt haben soll: „Sage Meister Christianus, dass ich mein Tage schändlichere Brillen nicht gesehen habe, denn die mit seinem Briefe kommen. Ich kund nicht ein Stich dadurch sehen.“
(http://www.mitteldeutsche-kirchenzeitungen.de/2011/11/11/brille-buchdruck-globus/, leider durch keine weitere Quelle bestätigt) Vermutlich müssen vor dem Hintergrund dieses Zitates sämtliche Lutherdarstellungen aus der Cranachsche Werkstatt einer Revision unterzogen werden. Mit Hilfe eines Online Optikers ließ sich restaurieren, wie Martin Luther eigentlich hätte dargestellt werden müssen.
Jedoch trug Luther wohl nicht solch ein topmodisches Brillenmodell, sondern allenfalls eine Nürnberger Drahtbrille oder ein Vorläufermodell. Dennoch wird die Brille zu einem Symbol der Zeit Luthers. Und sie erklärt vielleicht einen Fehler Luthers, der so manches gut machte, weil er beitrug, Weltbilder aufzuklären: Wie Luther so in der Bibel las, stolperte er über Röm 1,17: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Und vermutlich war da ein Fleck auf der Brille, den er für das Wort „allein“ hielt. Er las: „Der Gerechte wird allein aus Glauben leben.“ Und verabschiedete sich von dem strafenden Gott und musste das nur noch zu Ende denken und fand die vier soli – die vier alleins: allein aus Glauben Gnade, Schrift und Christus. Wenn man also erst mal genauer hinschaut und selber denkt, dann lassen sich Entdeckungen machen.
Auch andere schauten genauer in ihre Welt. Unser Wort „Brille“ kommt leider nicht vom Brillianten. Der arabische Multikönner Alhazen (+ ca. 1040) beschrieb bereits die vergrössernde Wirkung eines Glaskugelsegments – dem Vorgänger des Lesesteins. Während hierzulande Keulen als entscheidende Werkzeuge galten, beschäftigten sich anderorts Menschen mit Naturwissenschaft und Technik und dem Fortschritt der Menschheit. Etwa drei Jahrhunderte später geht es auch in Westeuropa (manchmal) ohne Keulen. „Brille“ kommt ethymologisch ehr von Beryll, einem Halbedelstein. Dessen Name hielt als Oberbegriff für Halbedelsteine her, aus denen ab ca. 1300 Linsen geschliffen wurden. Und die Glasmacher in Murano erfanden zusammen mit Mönchen die Glaslinse.
Buchdruck und Brillenmacherkunst gingen natürlich Hand in Hand. Nicht nur der Gedanke Luthers, dass selber Lesen schlau mache, führte zu deren weiter Verbreitung. Wer Brillen trägt und Bücher liest, schaut genau hin und denkt selber nach. Schon 1492 entwarf deshalb Martin Behaim seinen Erdapfel auf der Grundlage nautischer Logbücher und eigener Reisen. „Unerhört – die ist doch eine Scheibe“, dachte wohl mancher Zeitgenosse.
Kolumbus untersuchte diesen Gegenstand auf seine Weise und fand den Seeweg Richtung Westen nach Indien. Das wäre eine großartige Abkürzung des Landweges gewesen. Dummerweise fand er nicht Indien, sondern einen anderen Kontinent; hätte er mal die Wikinger gefragt. So zeigt sich, dass auch große Visionäre manchmal in ihrer eigenen kleinen Gedankenwelt leben; einen weiteren Kontinent hatte Christoph nicht auf dem Schirm. Zahlreiche Geschäftsleute und Spekulanten machten sich nun auf Seewege, um die erlesenen Kostbarkeiten fremder Länder zu erbeuten. Andere wollten wissen, ob es einen Weg rund um die Erde gibt. Die Leute von Fernão de Magalhães kehrten im Jahr nach dem Wormser Reichstag und Luthers Septembertestament nach fast dreijähriger Seereise wieder nach Spanien zurück: die erste Weltumsegelung war ihnen geglückt – unter hohen Verlusten.
Mit Kopernikus war die Wende vom geo- zum heliozentrischen Weltbild eingeleitet und damit der Übergang vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Denken oder wie Kant sagte: „Eine Umänderung der Denkart“ oder auch ein Wandel von einer mythischen zu einer rationaleren Welt. Aber in die Welt Luthers passte dieser Gedanke nicht: „„Es ist die Rede von einem neuen Astrologen, der beweisen möchte, dass die Erde sich anstelle des Himmels, der Sonne und des Mondes bewegt, als ob jemand in einem fahrenden Wagen oder Schiff denken könnte, dass er stehen bleibt, während die Erde und die Bäume sich bewegen. Aber das ist, wie die Sachen heutzutage sind: Wenn ein Mann gescheit sein möchte, muss er etwas Besonderes erfinden, und die Weise, wie er etwas tut, muss die beste sein! Dieser Dummkopf möchte die gesamte Kunst der Astronomie verdrehen. Jedoch hat das heilige Buch uns erklärt, dass Josua die Sonne und nicht die Erde bat, still zu stehen.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Heliozentrisches_Weltbild, dort auch der (sekundäre) Beleg.)
Wie immmer, so auch hier gingen diesen Entdeckern auch „Early Adopter“ voraus oder folgten ihnen. Hier und da wurden sie ausgegrenzt, oder zum Opfer von dominierend Andersdenkenden oder sogar Henkern. So gesehen hat sich am Lauf der Geschichte kaum etwas verändert. Und auch Luther ist ja diesem Schicksal nur mit knapper Not entronnen.
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